• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erzählungen

 

Ein Untoter

„Vater!“
Eigentlich hat mein Vater mein Leben nur gestreift. Das mag vielleicht seltsam klingen in Bezug auf einen Menschen, dem ich eben dieses Leben auf eine nicht unbeträchtliche Weise zu verdanken habe. Und doch entspricht es der Wahrheit. Einer von mir gefühlten zumindest. Gemäß dieser Wahrheit tangiert mich das Leben meines Vaters nicht mehr als der Rempler eines Fremden in der U - Bahn: Ich bin kurz irritiert, aber da ich es eilig habe, gehe ich weiter, ohne mich umzublicken. Was für die U - Bahn nichts Ungewöhnliches ist, ist es in Bezug auf den eigenen Vater umso mehr. Ich wäre kein Mensch, wenn mit der banalen Tatsache des Zeugungsaktes alles gesagt wäre und sich Phänomene wie Charakter oder Neigungen ausschließlich in der Sprache der Spermien und Eizellen abhandeln ließen. Etwas über mich auszusagen hieße demnach, auch etwas über meinen Vater auszusagen - und umgekehrt. Nur was?
„Vater!“
Meine Mutter lacht. Es ist ein knurrendes, grimmiges Lachen. Ich höre, wie sie sich noch einen Prosecco eingießt. Ich bin darüber nicht beunruhigt, da ich weiß, dass dieses Thema bei meiner Mutter eine Nüchternheit hervorruft, so hart und greifbar wie ein faustgroßer Stein in klarem Wasser. Wenn wir bei dem Thema bleiben, wird es sie aufregen und ihr förmlich die Kehle austrocknen. Sie wird diese Trockenheit, die nicht nur von ihrem Hals Besitz ergreift, sondern auch von ihren Gefühlen, ihrer Erinnerung, mit einem weiteren Prosecco hinfortzuspülen versuchen - vergeblich, natürlich. Der Alkohohl wird sie jedoch nicht betrunken machen, höchstens unvorsichtig in ihren Äußerungen, anfällig für Übertreibungen - ein Zustand, der sie manchmal Dinge aussprechen lässt, die sie sonst wohl für sich behalten würde.
„Das ist nicht dein Vater - das ist dein Erzeuger!“

Einer anderen Wahrheit zufolge wirft mein Vater – sein Aussehen, seine Handlungen - einen Schatten auf meine Existenz. Er ist nicht in der Lage, sie zu durchdringen - das war er nie. Dennoch vermochte er sie eine Zeitlang zu verdunkeln, ganz so, als wäre mein Leben mit dem Fluch des seinen belegt. Ich fühlte diesen Fluch als etwas durch und durch Lebendiges in mir. Längst nicht so lebendig wie mein Lebenswille oder auch nur eine heftige Verliebtheit. Und doch ein zweifelsfrei identifizierbarer, dunkler Funke, der schon das eine oder andere Mal erloschen schien, um sich doch immer wieder wie von selbst zu entzünden. Es spielt dabei keine Rolle, dass der Mensch, der imstande ist, eine solche Wirkung zu erzeugen, selbst wahrscheinlich schon längere Zeit tot ist. Ich kann nicht mit genauer Sicherheit sagen, ob es so ist - es ist eher eine Ahnung, die jedoch weniger damit zu tun hat, dass mein Vater mehr als zwanzig Jahre älter ist als meine Mutter, sondern damit, das mir dieser Tod folgerichtig erscheint. Wohlgemerkt: folgerichtig, nicht wünschenswert. Mir schwebt bei dem Gedanken lediglich ein allmähliches Schließen der Akten vor, nichts sonst. Alles andere - Rache, Befreiung - wäre in diesem Fall zuviel. Und wirklich viel war es im Falle meines Vaters ja nie. Literarisch gesprochen war er kein Buch, kaum ein Kapitel. Ein prägnanter Absatz vielleicht, der - gemessen an seiner Quantität - einen übermäßigen Einfluss auf den Fortgang der Handlung hatte.
„Jeder andere wäre Dir ein besserer Vater gewesen als der. Jeder!“
Dass ich meinen Vater vor mir und der Welt für tot erkläre, erleichtert das Sprechen über ihn ungemein. Ich kann über seinen Schatten als über etwas Gegenwärtiges sprechen, während ich den Mann, zu dem dieser Schatten gehört, unrettbar der Vergangenheit angehören lasse. Selbst wenn mein Vater sich eines Tages bemüßigt fühlt, aus seinem Loch hervorzukriechen, um lautstark seiner Lebendigkeit Ausdruck zu verleihen, wird sich daran nichts mehr ändern. Ich glaube jedoch nicht, dass das passieren wird. In den vergangenen dreißig Jahren hat mein Vater nur zweimal versucht, mit mir in Kontakt zu treten. Zumindest weiß ich nur von diesen beiden Malen. Es kann natürlich sein, dass meine Mutter mir dahingehend etwas verschweigt. Wenn es so ist - es gibt das eine oder andere Indiz, das dafür spricht -, wird es sich jedoch um nichts Schwerwiegendes handeln. Höchstens um ein paar Briefe, die sie nicht an mich weitergeleitet, oder Anrufe, über die sie mich in Unkenntnis gelassen hat.

Meine Mutter und mein Vater ließen sich scheiden, als ich etwa eineinhalb Jahre alt war. Vielleicht ist sein Tod, der mir so naheliegend erscheint, in Wahrheit schon in dieser Zeit begründet. Ich habe daran nicht mehr als eine Handvoll konkreter Erinnerungen. Sie ähneln jenen letzten, sowohl dem Wachsein als auch Träumen zugehörigen Eindrücken von Licht und Farbe, die man blinzelnd wahrnimmt, bevor man zum Licht der Nachttischlampe beim Lesen einschläft. Meine Großeltern sind dunkelblau-schwarze Farbflächen auf einer weiß gestrichenen Wand, die plötzlich dreidimensional werden und sich gütig lächelnd über mich beugen, was mir erst meine Rücklage in einer Wiege bewusst macht. Meine Mutter wiederum steht im Türrahmen und stellt gleichsam die Grenze dar, die das gleißende Tageslicht, das den Hof in ihrem Rücken zum Glühen bringt, von der Dunkelheit des Vorzimmers scheidet, in dem die Zeit angehalten ist. Ich liege nicht mehr in der Wiege, sondern krabbele auf einer hellblauen am steinernen Boden auf sie zu. Ich strecke eine Patschhand nach ihr aus. Ich will sie erreichen, bevor sie sich wieder dem pulsierenden Leben der Außenwelt hingibt. Ein anderes Mal bin ich allein. Ich sitze auf dem Hintern und lasse  meinen Blick über bunt bemalte Holzwürfel schweifen, die über einem frisch eingelassenen, hellen Dielenboden verstreut liegen. Unmittelbar vor mir ein Stoffkasperle, an dessen roter Kappe eine schellende goldene Glocke angebracht ist. Ich nehme den Kaspar und schüttele ihn minutenlang nach Leibeskräften. Aber nichts passiert. Niemand kommt, um nach mir zu sehen oder mit mir zu schimpfen, und so schleudere ich den Kaspar von mir weg unter die Holzwürfel, von wo aus er mir mit ewiggleicher Schelmenmiene entgegenglotzt.
Unter all diesen sich regenden und bewegenden Schemen befindet sich kein Umriss oder Fleck, nicht einmal ein Punkt, der auf die Existenz meines Vaters hinweist, ja, eines Vaters überhaupt.
„Sei froh.“
Meine Mutter nimmt einen Schluck Prosecco. Ich stelle mir vor, wie sie das Glas hebt und kurz einen Blick auf seinen Inhalt wirft, als sie es an ihre Lippen führt. Nicht anders als diese gelbgrüne Flüssigkeit ist ihr die Liebe: Sie beschwingt beim ersten Schluck, in Unmaßen genossen wirkt sie betäubend, macht einen letztlich krank.
„Wie schön wäre das, wenn ich keine  Erinnerungen an Deinen  Erzeuger hätte. Außerdem: Wenn er zuhause war - “.
 Sie bricht im Satz ab. Sie leidet an all diesen Worten - Liebe, Ehe, Zuhause, Mann, Vater -, die so folgerichtig scheinen, jedermann einleuchten, und doch in ihrem Fall so unmöglich klingen, ja, eine vollständige Umkehrung ihres Sinns darstellen, dass es ihr geradezu wie eine Perversion vorkommt.

„- da haben die Oma und ich immer geschaut, dass er dir nicht zu nahe kommt. Dir nichts tut. Ich will noch nicht einmal behaupten, dass er Dir etwas tun wollte. Da hat er sich ganz an mich gehalten. Aber wenn er betrunken nach Hause gekommen ist, musste man mit allem rechnen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich manchmal um mein Leben gefürchtet habe, wenn ich mit ihm allein war. Der Opa war ja auch ein brutaler Mensch. Aber man wusste immer, warum er einen schlug. Es gab eben Regeln - seine Regeln. Wenn man die nicht befolgte, dann hatte man schneller eine gefangen, als man schauen konnte. Das tat auch weh. Aber es war eine klare Sache. Bei deinem Erzeuger wusste man nie, woran man war. Warum er einen schlug. Der Alkohol allein war es auch nicht, obwohl er sich natürlich mehr gehen ließ, wenn er besoffen war. Manchmal kam er ja tagelang nicht nach Hause von seinen Sauftouren. Dann hatten wir es immer schön. Oder wenn wir bei Oma und Opa waren. Vor dem Opa hat er richtig Angst gehabt. Aber gut. Wer hatte die nicht. Am schlimmsten war für mich, dass Oma und Opa mich immer wieder zu ihm zurückgeschickt haben. Eine Frau gehört nun mal zu ihrem Mann, haben sie gesagt. Ich habe geweint, ihnen erzählt, was er mit mir treibt. Aber sie haben mich trotzdem zu ihm geschickt. Sicher, sie kannten es nicht anders. Der Oma hat das später leid getan, als es dann richtig schlimm wurde, und man meinem Gesicht ansah, was er für einer war. Sie konnte richtig böse werden, wenn nur sein Name fiel. Geschweige denn, wenn er versucht hat, den Hof zu betreten. Trotzdem. Richtig verzeihen konnte ich ihr das nie.“

Das erste Mal, das ich meinen Vater nach der Trennung meiner Eltern wiedersah, ist zugleich das erste Mal, dass ich mich überhaupt daran erinnere, ihn gesehen zu haben. Ich ging noch nicht zur Schule und wuchs am Bauernhof bei meinen Großeltern auf, während meine Mutter in der fernen Stadt tagsüber arbeitete und nachts versuchte, die unbeschwerte Kindheit nachzuholen, die ihr vorenthalten worden war. Es war ein sonniger Vormittag, und ich kickte gerade einen Plastikball mit einem Muster aus schwarzen und gelben Sechsecken gegen die zur Strasse hin gewandte Außenseite unseres Stalls. Ein roter Wagen näherte sich unserem Hof. Anstatt bis zu unserem Haus vorzufahren, blieb er neben mir stehen. Ein Mann und eine Frau stiegen aus dem Wagen aus. Er war glatt rasiert, hatte pomadiges, graumeliertes Haar und trug einen ebenfalls grauen Anzug, darunter ein weißes Hemd. Die Frau war um einiges jünger, die verschiedenen Komponenten ihrer Erscheinung waren penibel aufeinander abgestimmt: Sie trug ein weißes Kleid mit roten Punkten, dazu rote Schuhe. Der Lippenstift auf ihren Lippen war ebenso rot wie der Lack auf ihren Fingernägeln. Selbst das Band ihres Strohhuts war rot. An ihre Haarfarbe kann mich vor lauter Rot nicht mehr erinnern. Der Mann kam mir irgendwie bekannt vor, ich wusste jedoch nicht, woher. Als er ein paar Schritte auf mich zu machte, fiel es mir vermeintlich wieder ein, und ich sagte ‚Grüß Gott, Herr Doktor’ - ich hielt ihn für den Tierarzt, der  routinemäßig einmal im Jahr nach den Tieren sah. Der Mann war darüber offensichtlich erstaunt, sah zu der Frau hinüber, und beide lachten herzlich, ohne dass ich verstand, warum. Es sollte mir gleich klar werden. ‚Ja, Robert’ sagte die Frau, ‚kennst du denn deinen eigenen Vater nicht?’. ‚Nein, ich kenne ihn nicht. Nicht wirklich’, hätte ich wahrheitsgemäß zur Antwort geben müssen. Ich brachte natürlich kein Wort hervor, sondern war für einen Augenblick erstarrt, der Situation ausgeliefert - als hätte man mich mit einer Pinzette vorsichtig in ein Reagenzglas gesteckt, in dem es mir unmöglich war, mich zu bewegen.
Ich löste mich aus meiner Erstarrung, als mein Vater einen Schritt auf mich zu machte. Es war eine seltsam linkische Bewegung, bei der er zugleich ein wenig den Kopf neigte und den Oberkörper verrenkte, sodass ich spürte, es blieb mir nicht mehr viel Zeit, bis er den Arm nach mir ausstreckte und mich zu fassen bekam. War die Tatsache, dass dieser Mann mein Vater war, bis dahin nichts als die Behauptung einer jungen Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, so war mir - dem Ziel dieser Vorwärtsbewegung - mit einem mal klar: Das ist mein Vater! Meine Mutter hatte immer Angst davor gehabt, dass ihr Ex - Mann eines Tages versuchen würde, mich zu entführen. Aber nicht, um mich bei sich zu haben, sondern um Geld für meine Rückgabe von ihr zu erpressen. Sie hatte mich angewiesen, mich nie von einem fremden Mann ansprechen oder gar anfassen zu lassen - denn dieser Mann konnte mein Vater sein.
Mein Herz schlug schneller. Mein Mund war trocken. Die Sonne war ein Kissen aus Licht, das mir aufs Gesicht gepresst wurde. Ich fühlte den Schatten des Mannes auf mir, bald würde ich im Netz seiner Finsternis zappeln. Aber bevor es soweit war, machte ich am Absatz kehrt und rannte so schnell ich konnte ins Haus zurück. Dort versteckte ich mich unter dem Bett und lauschte der zornigen Stimme meiner Großmutter, die von ihm verlangte, das Grundstück unverzüglich zu verlassen. Was er schließlich tat, nicht ohne mit vor falscher Weinerlichkeit bebender Stimme seinem aus seiner Sicht berechtigten Anspruch Ausdruck zu verleihen. „Er ist doch auch mein Bub…“.

Gleich, ob er mich tatsächlich entführen oder einfach nur sehen wollte - der Versuch fiel im einen wie im anderen Fall kläglich aus. Wenn es ihm ein wirkliches Bedürfnis gewesen wäre, dessen Befriedigung keinen Aufschub duldete, hätte er mit wesentlich mehr Nachdruck, ja, Leidenschaft zu Werke gehen müssen und sich nicht kampflos von einer alten Frau abwimmeln lassen dürfen, die ihm körperlich weit unterlegen war. Dass er es die nächsten Tage nicht noch einmal versuchte, ist mir ein Indiz dafür, dass er wohl einer Laune nachgeben hat, die so rasch verflog, wie sie über ihn gekommen war. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass mich das getroffen hat. Für mich war es ein Ereignis unter vielen, die den Sommer für mich aufregend machten: die Begegnung mit einem Reh im raschelnden Dickicht eines Maisfeldes etwa oder die Nacht, in der wir vom Zaun aus mit ansahen, wie der Heuschober unseres Nachbarn abbrannte. Der Brand war für mich als Kind nicht zuletzt deshalb faszinierend, weil alle, die nicht unmittelbar damit zu tun hatten, sich darüber zu freuen schienen. Aber nicht aus Schadenfreude, sondern weil vom nächtlichen Feuer eine Schönheit ausging, die jeden berührte, ja, beglückte, ob er wollte, oder nicht. Selten habe ich meine Großeltern so einträchtig nebeneinander stehen und lächeln sehen.
„Der hätte Dich sicher entführt. Was denn sonst? Dem ist es immer nur ums Geld gegangen. Der hat sich für nichts interessiert, außer für sich selbst. Menschen waren dazu da, ihm einen Vorteil zu verschaffen. Wie er gemerkt hat, dass bei uns nichts zu holen ist, dass der Hof verschuldet war und längst der Bank gehört hat, meine Güte, da ist er ausgerastet, ich sage Dir, die Prügel habe ich noch eine Woche später gespürt.“

 

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