• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die Träumer

 

Null

Manche Teile seines Körpers hatten ihn schon abgeschrieben, während andere noch um ihn kämpften. Seine Augen hielt es nicht länger in ihrer Höhle. Wie frisch geschlüpfte, glitschige Tiere drängten sie ins Freie - als gäbe es für sie ein Leben außerhalb seines Kopfes. Die Haut hingegen spannte sich, als könnte sie von sich aus einreißen und dadurch Atemschlitze schaffen. Seine Beine zuckten hin und her. Sie konnten sich nicht damit abfinden, dass es diesmal unmöglich war, einfach davonzulaufen. Roberts Blut zirkulierte nicht mehr, es rieselte durch seinen Körper wie durch eine Sanduhr: Es wog, gemessen an seinem Anteil im menschlichen Körper, schwerer, als er dachte. Die letzten Körner purzelten durch den schmalen, gläsernen Kanal, der das Leben war, zu Boden, wo sie - da diese Uhr wohl nicht mehr umgedreht wurde - für immer liegenblieben.
Robert drohte, an seinem Erbrochenen zu ersticken.
Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass die Schwerkraft, der doch alle Lebewesen gleichermaßen unterworfen waren, ihm ganz besonders zusetzte - nun schien sie ihre Macht über ihn zu verlieren.
Immer, wenn er sich zu einem Menschen hingezogen fühlte und auf ihn zugehen wollte, ließ es die Schwerkraft nicht zu, dass er auch nur einen Millimeter von seinem Standpunkt abrückte. Wenn ein Mädchen, das er insgeheim mochte, plötzlich an ihn herantrat, kam nicht selten eine Art von Magnetismus hinzu. Ober- und Unterlippe ließen sich dann nicht mehr voneinander lösen, der rechte Arm ließ sich nicht mehr vom eigenen Körper weg- und dem anderen Körper entgegenstrecken. In diesen Momenten war er kein freier Mensch mehr, dem die Himmelsrichtungen offen standen, sondern ein abschreckendes Beispiel für die Beharrlichkeit der natürlichen Kräfte.
So war es schon in der Schule gewesen: Beim Hochsprung überließ ihn die Erdanziehung nicht für einen Moment der Fliehkraft, sodass er frei durch die Luft segeln und weich auf der Matte landen konnte, sondern beförderte ihn umgehend auf den Boden der Tatsachen. Er stieß mit dem Kopf an die Latte und schlug auf dem harten Aschenplatz auf. Als Student machte er sich in Bezug auf Unternehmungen dieser Art keine Illusionen mehr. Er hatte sein Leben nicht zuletzt danach ausgerichtet, welche Gefahren ihm von dieser Seite drohen konnten. Er mied die Schipiste ebenso wie das Tanzparkett, wobei er es im Laufe der Zeit verstand, seine Angst unter der Maske des Intellektuellen zu verbergen, der sich geistigen, nicht körperlichen Abenteuern verschrieben hatte.
Obwohl es mit ihm bergab ging, wurde die Luft dünner. Jeder Sauerstoffpartikel, den seine Lunge ihr beim Einatmen abrang, kostete ihn beim Ausatmen einen Partikel seines Lebens. Die Natur, die sich trotz allem, was täglich an Arten und Lebensformen verloren ging, doch mit nichts anderem beschäftigte als Addition und Multiplikation, nahm ausgerechnet an ihm eine Subtraktion vor. Bald war er nicht viel mehr als ein totes Tier im Gras, das als Brandzeichen eine Seele trug.
Unfallopfer erzählten, dass sie in ihrer Bewusstlosigkeit von Todgeweihten zu Lichtgeweihten wurden und einen Schacht hinauf schwebten, der zur Quelle dieses Lichts führte. Aber offensichtlich blieb man im Sterben doch, was man im Leben war: menschliche Knetmasse, die irgendein überirdischer Volkshochschüler drangsalierte wie einen Klumpen Ton.
Robert ging nicht im großen Ganzen auf wie eine Prise Salz im süßen Brei. Verlöschen war kein Akt himmlischen Augenzwinkerns. Der Tod nahm es sehr genau, er war geradezu detailversessen, dabei jedoch ohne die für die Liebe zum Detail unentbehrliche Geduld.
Vielleicht blieb einfach nicht mehr genug Zeit. Die Ausschnitte und Vergrößerungen aus seinem Lebensfilm, die ein letztes Mal von ihm Besitz ergriffen, bevor sie im selben Dunkel verloren gingen wie er, erinnerten ihn an die mit Super-8–Kamera gedrehten Urlaubs- und Kindergeburtstagsfilme seines Vaters. Technik, die er kaufen, umgehend mit nach Hause nehmen und der versammelten Familie vorführen konnte, berauschte seinen Vater. Vor allem der elektrotechnische Fortschritt fand in ihm mehr als einen braven Abnehmer. Er wurde solange ein Bestandteil des Geräts, das er bediente, bis er mit etwas Neuem nach Hause kam. Der alte Bund wurde dann gelöst, ein neuer geschlossen. So hatte der letzte Film dieser Art nicht nur Roberts bestandenes Abitur, sondern auch das zeitgleiche Auftauchen der Videokamera zum Anlass.
Das Gerät zu besitzen und sich mit diesem Besitz zu identifizieren, führte bei seinem Vater immer wieder zu einer unerträglichen Anspannung, die sich auf die übrigen Familienmitglieder übertrug, und von der man erst dann erlöst war, wenn das Gerät zur Anwendung kam. Auf die Euphorie, was nun möglich war, folgte die Enttäuschung darüber, was weiterhin unmöglich blieb. Es schien seinen Vater zu quälen, das in alle Räume verstreute Kinderglück eines Geburtstags - das Brüllen und Lachen der Kinder, wenn sie im Garten fangen spielten, die großen Augen und das Schweigen, wenn sie hinterher am Küchentisch Kuchen aßen - nicht in eine einzige Einstellung, eine ideale 360 Grad - Aufnahme bannen zu können, ohne dabei Kopf und Kamera von einem Motiv weg- und zum anderen Motiv hinbewegen zu müssen.
Da ihm die Vollkommenheit der einzigen Einstellung verwehrt blieb, splitterte er sie in unzählige Einstellungen auf. Er hörte das Kichern eines Kindes, stöberte es auf und bannte es auf Zelluloid wie ein Sammler, der einen Schmetterling fing und ihn hinterher aufspießte. Die Angst, ihm könnte das entscheidende Standbild des Abends entgehen, machte seinen Vater dabei vom Jäger zum Gejagten. Seine Kameraführung war unruhig, und der Schweiß tropfte von seiner Stirn. Sein pausenloses, rotgesichtiges Hin und Her ließ Robert an einen Dämon denken, der im Unglück seiner Unfreiheit nicht anders konnte, als andere mit ins Unglück zu reißen.
Sich diese Filme anzusehen, ob allein oder an den Geburts- und Hochzeitstagen seiner Eltern, barg lange Zeit die Gefahr, dass etwas Besonderes zu etwas Gewöhnlichem wurde. Die Linse seines Vaters verwandelte die beglückende Mechanik, die beim Schaufeln von warmem Sand in Gang gesetzt wurde, in eine von einem Postkartenhimmel flankierte X-beliebigkeit. Den Filmemacher hielt es dabei nie lange bei einem Motiv. Um nach der Rückkehr als Hauptdarsteller auf der heimischen Leinwand zu erscheinen, mussten seine Schwester und er es in Kauf nehmen, vom Auge des Vaters amputiert zu werden. Ob sein Vater ihm den Arm abtrennte oder das Gesicht seiner Schwester auf eine Hälfte reduzierte, was ihnen lange als reines Unvermögen gegolten hatte, erschien ihnen bei späterer Ansicht als Spiegelbild des schmerzvoll empfundenen Ungenügens ihrer Kinderexistenz: Die Tatsache, dass ein Kinderblick, ein Kinderwort, eine Kindergeste über Glück und Unglück ihres Vaters entscheiden konnte, dabei jedoch nicht auszumachen war, was an welchem Tag geradewegs ins Glück und was ins Unglück führte.
Kurze Zeit, nachdem sein Vater gegen einen Baum gefahren und noch am Unfallort gestorben war, sah er sich die Filme ein letztes Mal an. Da erst, nachdem der Tod den Schatten, den der lebende Vater warf, aus dem Weg geräumt und so die Sicht freigemacht hatte, erkannte er, dass die Kamera, mit der sein Vater Frau und Kinder bis auf die Toilette verfolgte, in Wahrheit auf ihn selbst gerichtet war. Die Aufnahmen, die das Porträt einer jungen, glücklichen Familie ergeben sollten, ergaben in der Art, wie sie gemacht wurden, ein Selbstporträt seines Vaters. Die anfänglich energisch, dann hektisch, zuletzt resigniert betriebene Suche nach etwas, das sich in seine Träume und Vorstellungen vom Leben fügte wie ein Zahnrad in das andere, gab den Filmen das Tempo vor. Falls sein Vater einmal seine Hoffnung auf das Komplementäre im Wesen eines anderen Menschen gesetzt hatte, so hatte er sie zu diesem Zeitpunkt offensichtlich begraben. Er gab sich ganz dem Supplementären der Technik hin und ihrem Versprechen von der Selbsterweiterung und -vervollkommnung des Ichs. Das Antlitz des Glücks suchte er, nicht einzelne glückliche Kindergesichter. Immer wieder gingen Details in der Menge der durch den Film flanierenden Unschärfen und Unterbelichtungen verloren. In einem der Filme hingen unter Knopfaugen und blassen Näschen rot bemalte Kindermünder wie überreife Kirschen an einem Baum. Als die Kamera sich daran machte, das Schleimglänzende einer Mundhöhle näher zu untersuchen, erschrak das Kind so sehr, dass gleich alle Kirschen zu Boden fielen und umgehend zu faulen begannen. Das Davonlaufen der Kinder wirkte dabei für einen Moment wie von einem fahrenden Auto aus gefilmt.
An anderer Stelle rieb sich Roberts weißhäutige Mutter mit Sonnenöl ein. Nicht eine Wolke bedrohte die Einheit von Haut, Sand und Himmel, doch Roberts Mutter fand die Sonnenbrille nicht, um die zweifache Musterung durch Sonne und Ehemann aushalten zu können. Ihre Stirn furchte sich, und ihre Augen verengten sich zu einer Mündung. Aus der Deckung ihrer Schatten spendenden Hand feuerte sie die Kugel ihres Blicks auf die Kamera, die ihren Körper mindestens so unbarmherzig ausleuchtete wie die Sonne. Roberts Vater betätigte den Zoom und nahm die Augen seiner Frau ins Visier. Vielleicht wollte er bis zur Tränenebene vordringen, auf der sich ihr Blick immer mit Sehnsucht und Trauer mischte, aber auch mit sexueller Erregung und kindlichem Glück. Roberts Mutter setzte ihre Sonnenbrille auf. Ihr Mann, der statt auf ein Innenleben auf eine glänzende Oberfläche traf, brach die Aufnahme sofort ab.
Ein Ächzen wie das Quieken eines Tiers: Robert existierte kaum mehr, war jedoch noch nicht tot. Was von ihm noch übrig war, fühlte sich an wie damals, als er im Kindesalter zum ersten Mal auf einem zugefrorenen See gestanden hatte. Wie an jenem Tag drang die Kälte auch diesmal durch Ohren und Nase, Finger und Zehen in ihn ein. Aber während damals sein Atem die gläserne Luft beschlug, legte sich nun eine Hand auf seine Lippen, ballte sich zu einer Faust, stieß in seinen Mund vor und blieb in seinem Rachen stecken wie ein Schlüssel im dazugehörigen Schloss.
Zeit verging. Das Schreien eines Babys wurde vom Geräusch einer im Hintergrund vorüberfahrenden S-Bahn weggewischt. Die Polizeisirenen der Nacht mündeten in die Polizeisirenen des Tages. Kinder warfen, kaum dass sie aus dem Haus gegangen und um die Ecke gebogen waren, ihre Pausenbrote in eine Mülltonne. Eine Bierdose schlitterte scheppernd über den Asphalt. Ein Bauarbeiter trank Kaffee aus einem dunkelbraunen Plastikbecher.
Eine Krähe landete neben Roberts Kopf. Es ließ sich nicht sagen, ob der Vogel die Totenwache stellte oder die Müllabfuhr.

 

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