• "Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A powerful use of image and poetry." ***** Roger Ballen, Photographer

  • "Terribly beautiful and fascinating" **** Richard Mosse

  • "Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser." ***** Stefan Gmünder, Der Standard

  • "Peter Truschner belongs to the almost extincted sort of artists who always have to go all out." ***** Frankfurter Allgemeine Zeitung

  • "A great amount of good photography." ***** Myrto Steirou, VOID

  • "Peter Truschner ist nicht nur ein wacher und sensibler Beobachter, sondern ein Erlebender des Wahnsinns, der um uns herum geschieht." ***** Martin Kusej, Burgtheater Wien

  • "Ist das immer schon so gewesen, dass man eines Tages hinter seinem warmen Ofen hervorgeholt und an den Haaren ans Ufer gezerrt und in die kalten Betriebsfluten getaucht und getauft wurde im Namen des Geschäfts?" ***** aus: Im Namen des Geschäfts

Copyright 2024 - Peter Truschner - All rights reserved // „Peter Truschner gehört zu jener aussterbenden Künstlerspezies, die stets aufs Ganze gehen muss.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Erzählungen

 

Bullennovelle

 

Simon klingelt, das schnarrende Summen des Türöffners ertönt, er steht vor der Panzerglasscheibe und nickt den Kollegen von der Wache zu. Der Tagesdienst beginnt morgens um siehen Uhr. In der letzten halbe Stunde vor Dienstbeginn stellt sich bei ihm trotz aller Routine eine gewisse Erregung ein, eine heimliche Vorfreude auf das Unvorhersehbare, das den Puls beschleunigt und dem oft enttäuschend unspektakulären Leben eines Streifenpolizisten einen kurzen Glanz verleiht, auch wenn man nie weiß, welche Gestalt es annimmt und in welchem Umfang man selbst in das Geschehen - ein Mord, eine Verfolgung, eine Wohnungsräumung - verwickelt sein wird.
Einige haben es kaum erwarten können und sind schon mit siebzehn zur Bereitschaftspolizei gegangen, wo sie Teil eines fünfundzwanzig Mann starken Zugs einer Einsatzhundertschaft waren, die anlässlich von Demonstrationen oder Spielen der Fußball-Bundesliga aufmarschiert. Es gibt genug, die sich darum reißen, in der ersten Reihe zu stehen, mit petrolfarbener Schutzhose, Schutzhelm und -schild, Tonfa - Schlagstock und achtzehn Kilo schwerem Brust-, Schienbein- und Ellbogenpanzer. An vorderster Front bekommt man zwar am meisten ab, wird vom ‚relevanten Block’ mit Steinen, Flaschen und gefüllten Urinbeuteln eingedeckt, aber man kriegt auch am meisten mit, hört als erster die Schmähgesänge - Hopp, hopp, hopp - Schweinchen im Galopp! - und nimmt gewissermaßen eine privilegierte Position ein, wenn es – je nach Betrachtungsweise – ans Zu- oder Zurückschlagen geht. Gedanken schießen wie Feuerwerkskörper durch den Kopf, man läuft geradezu heiß unter seinem Helm, als stimmte sich der Körper auf das Getümmel ein, in das man wenig später hineingerät. In der Vorwärtsbewegung fällt dann alles von einem ab, man wird zu einer Form von Energie, die zu groß ist, zu urmenschlich, als dass man sich gegen diese Verwandlung wehren könnte. Wollen tut man es in diesem Zustand ohnehin nicht. Alles fließt von einem weg, man wird mitgerissen wie ein Ast im Strom. Dass man es sich in dieser groben, keuchenden Ungemütlichkeit trotzdem einigermaßen gemütlich machen und sich diszipliniert und koordiniert seinen testosteronsatten Trieben und Instinkten hingeben kann, hängt natürlich damit zusammen, dass man sich nicht nur im Recht fühlen darf, sondern das Gesetz tatsächlich auf seiner Seite hat. Unter dem Banner dieser Rechtmäßigkeit, dieses Verdienstes am Staat und seinen Institutionen, ist ein Video auf Youtube, das einen Polizisten zeigt, der auf einer Demo an einem auf dem Boden knienden Mann vorbeikommt und ihm ins Gesicht tritt, nicht mehr als ein unvermeidlicher Teil jenes Haufens an Spänen, die beim Hobeln eben anfallen, wenn das Material in eine benutzerfreundliche Form gebracht wird.
Das Schwierige an dem Beruf ist, trotz allem man selbst zu bleiben, der Mensch unter der Uniform, empfindsam, berührbar. Man muss höllisch aufpassen, keine Hornhaut um das eigene Gewissen herum auszubilden, an der alles abtropft, darf nicht in jene lethargische Routine verfallen, die vielleicht das graue Herz aller Dinge ist. Es ist jene Sache, mit der Simon selbst am meisten zu kämpfen hat. Wenn er als Polizist etwas erreichen will - etwa ein Studium für den gehobenen Dienst -, dann ist es definitiv an der Zeit, die Zähne zusammenzubeißen und in den Tunnel zu gehen, von dem Oliver Kahn einmal in einer Dokumentation gesprochen hat, in der der Torwart des FC Bayern weniger wie ein Titan, ein Souverän seines Raums und seiner Zeit, sondern mehr wie ein Tier in einem Käfig wirkte. Der Tunnel, zu dem die Welt wird, wenn man sich einer Aufgabe mit Haut und Haar verschrieben hat; der einem für eine bestimmte Zeit alles bedeuten muss, und in dem man insgeheim ständig darüber nachdenkt, wie man ihm entfliehen kann. Schade, dass es vom Leben keine unmissverständliche Dienstanweisung gibt, die für klare Verhältnisse sorgt. Wie man es auch dreht und wendet: Simon ist noch nicht tief genug in diesen Tunnel vorgedrungen, wenn er stehen bleibt und sich umdreht, kann er noch immer die lichtgetränkte Welt jenseits des Eingangs sehen, und er verspürt den Drang, umzukehren, die Bäume rauschen und die Vögel zwitschern zu hören.
Auf dem Weg zur ‚Schwemme’ geht Simon am Funksprechzimmer vorbei, ‚kbV’, denkt er, keine besonderen Vorkommnisse, nichts deutet auf die nervöse, blecherne Beschallung während einer Samstagnacht hin. Das Verbrechen schläft zwar nie, liegt aber um diese Zeit trotzdem überwiegend noch im Bett oder macht dasselbe wie die Kollegen: einen Kaffee trinken. In der ‚Schwemme’ verstaut er seine Brötchen im Kühlschrank, zwei Kollegen reden über den kommenden Spieltag der Fußball - Bundesliga. Nach der Dienstübergabe wird Simon vom Schichtführer bei der Einsatzbesprechung dem Streifenabschnitt 1 des Schutzgebiets zugeteilt. Er freut sich, weil es zugleich bedeutet, dass er mit Hauptmeister Fricke fahren wird, mit dem er sich gut versteht. Fricke klopft ihm aufmunternd mit der linken Hand auf den Oberarm. In der rechten Hand hat er einen Stapel örtlicher Haftbefehle des Streifenabschnitts, deren Vollzug zumeist durch die Zahlung einer Geldstrafe noch im letzten Moment abgewendet werden kann. Wenn der Delinquent auch dann nicht zahlen will oder kann, wird er in die Haftanstalt eingeliefert. Als sie zum Streifenwagen im Garagenhof gehen, wird Simon wieder bewusst, wie wohl er sich in Frickes Nähe fühlt, von dem eine scheinbar unerschütterliche Normalität ausgeht, die Simon Halt gibt und seine Zweifel für die Dauer ihrer Zusammenarbeit beseitigt.
Fricke setzt sich ans Steuer des Wagens, während Simon die Wache anfunkt: „Tor auf, bitte.“ Man hört ein atmosphärisches Knacken im Kanal, kurz darauf blinkt die gelbe Kontrolllampe über dem Tor auf, dessen bewegliche, ineinander gefügte Einzeltzeile sich langsam zu einer Metallrolle zusammenziehen. Fricke fährt wie gewöhnlich bereits darunter hindurch, als erst zwei Drittel des Tors eingerollt sind, während Simon sich bei der Einsatzleitstelle einsatzbereit meldet. Als Simon sich den ersten Haftbefehl ansieht, der auf dem Stapel liegt, hält er kurz inne. Fricke bemerkt es, blickt zur Seite und sagt, als Simon ihm den Zettel wortlos vors Gesicht hält: „Nutzt nichts, da müssen wir durch.“
„Zieh Dir die Handschuhe über“, sagt Fricke bevor sie aussteigen, „sonst holst Du Dir noch was.“ Im zertrampelten Rasen vor dem Eingang des 60er-Jahre-Wohnblocks liegt eine nicht näher zu beziffernde Menge an Zigarettenkippen, Simon entdeckt im Vorübergehen außerdem eine leere Bierdose und ein farbloses Kondom. Der Block hat zwölf Stockwerke, die meisten Wohnungen bestehen gerade einmal aus einem, maximal zwei Zimmern. Auf den rechteckigen Schildern neben den Klingeln finden sich viele Namen, die auf den ersten Blick nicht deutschen Ursprungs sind. Bei manchen Schildern fehlt der Name, es ist allgemein bekannt, dass im Haus ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Manche werden hier per Amtsbescheid untergebracht, um mit dem nächsten Bescheid wieder an einen anderen, ähnlich tristen Ort verfrachtet zu werden. Es gibt jedoch auch Bewohner, die hier schon seit Jahren vor sich hin vegetieren. Sie haben Glück, der Name der Delinquentin befindet sich auf einem der Namensschilder, daneben die Nummer ihres Apartments: 934, neunter Stock also. Die gläserne, in einen dunkelblau lackierten Stahlrahmen gefasste Eingangstür ist nicht abgeschlossen und lässt sich mit einem sanften Druck öffnen. Bevor sie den Lift betreten, holen sie tief Luft. Obwohl sie ihn auf dem viel zu langsamen Weg nach oben nicht riechen können, können sie ihn spüren, den Geruch aus Pisse, Kotze und Desinfektionsmittel, für den dieser Lift berüchtigt ist. Dieser Geruch hat Fühler, die ihre Wangen streifen, eine schleimige, blitzschnell hervorschnellende Zunge, die an ihren Lippen nestelt, sodass sie im vierten, fünften Stock allein im Wissen um den beißenden Gestank ein Brechreiz befällt, der im sechsten Stock schlimmer wird, bis Fricke unmittelbar vor dem Ziel nicht mehr an sich halten kann, und die zuvor eingeatmete Luft im achten Stock förmlich erbricht - ein Erbrechen, das kurz darauf Wirklichkeit zu werden droht, als er ruckartig aus- und einatmet. Im selben Augeblick sind sie jedoch endlich im neunten Stock angekommen, und Fricke rennt im Gang zu einem Fenster, reißt es auf und holt erst einmal tief Luft. „Scheiße“ sagt er. Simon atmet durch und stellt sich neben ihn. Sie blicken geradeaus auf zwei Häuser, die genauso aussehen wie dasjenige, in dem sie sich gerade befinden. Ein Mann im Unterhemd lehnt im Rahmen eines geöffneten Fensters, raucht eine Zigarette und sieht ohne jede Neugier zu ihnen herüber. Der Anblick Uniformierter, sei es die Polizei oder die Feuerwehr, stellt hier nichts Besonderes dar. Die Häuser stehen auf einer Anhöhe, die Zufahrt führt nur zu dieser Vierergruppe von Wohnblocks, die sich paarweise gegenüberstehen, einander belauern, in Gleichgültigkeit und Widerwillen vereint. Um sie herum weiträumige, menschenleere Rasenflächen und ins gesellschaftliche Abseits hinein gepflanzte Bäume, die Simon geradezu absurd vorkommen, Beweismittel eines groben Missverständnisses, dessen Ursachen weit über die Architektur hinausgehen.
Fricke wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab. „Auf geht’s.“ Die Gummisohlen seiner neuen Schuhe erzeugen am schmierigen Beton ein hohes, leicht quietschendes Geräusch, das ihm sichtlich auf die Nerven geht, seine Stirn furcht sich, er presst die Lippen zusammen. Gut, dass es nicht um etwas Wichtiges geht, denkt Simon, bei dem jede Kleinigkeit ins Gewicht fallen kann.
Sie nicken sich zu und blicken vom offenen Fenster aus in die diffuse Leere des Gangs, der sich vor ihren Augen nach wenigen Metern in zwei Gänge teilt, die sich in Wahrheit gar nicht in diesem Haus befinden, auch nicht in dieser Stadt, sondern auf der dunklen Seite des Mondes. Seegurken, Pelikanaale, Riesenkalmare: Einige Lebewesen fristen in tausenden Metern Meerestiefe ihr Leben und haben gelernt, mit der absoluten Finsternis fertig zu werden. Den Menschen aber treibt es zum Licht, er kann nicht anders, seine Existenz hängt von ihm ab, und er hält es meist nur dann lange im Dunkeln aus, wenn ihm ein anderes Licht leuchtet, ein inneres, weltabgewandtes. Nicht selten färbt die Dunkelheit auf denjenigen ab, der sich in ihr wieder findet, ohne genau sagen zu können, wie er dort hingekommen ist. Sein Gemüt verfinstert sich, seine Umgangsformen verkümmern, er stumpft sowohl sich selbst als auch seinen Freunden und Bekannten, überhaupt allem gegenüber ab. So zumindest stellt Simon sich das vor, wobei es eine Frage des Standpunkts bleibt, ob man einen bestimmten Menschen nun als Opfer einer Finsternis sieht, die um ihn herum herrscht, in die er gleichsam hineingeboren wird und durch die hindurchzukämpfen ihm schließlich nicht gelingt; oder ob man ihn als Täter begreift, der mit dem Leben, das er führt, und den Entscheidungen, die er trifft, seinen Teil dazu beiträgt, das sich die Finsternis um ihn herum ausprägt, an Konsistenz gewinnt. In einem gewissen Sinn ist man wohl unauflösbar Täter und Opfer zugleich, und je mehr man über eine konkrete Tat x zum Zeitpunkt y nachdenkt, sich ihre Ursachen vor Augen, allgemeine und besondere Umstände ins Treffen führt, desto mehr verschwinden die Konturen zwischen beiden Positionen, die klar voneinander zu scheiden nicht zuletzt die Aufgabe eines Polizisten ist.
Fricke rammt Simon seinen Ellbogen in die Seite und reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie stellen beide das Funkgerät aus, um die Kundschaft, wie Fricke sie nennt, nicht unnötig aufzuscheuchen. Fricke geht voran, Simon hält sich dicht dahinter, merkt, wie Fricke sich trotz seiner Sohlen bemüht, so leise wie möglich zu sein, und macht es ihm nach, auch wenn er es übertrieben findet. Schließlich ist es ja nichts Ungewöhnliches, dass im Laufe des Tages Menschen diese Gänge entlanggehen, die Wahrscheinlichkeit, einem von ihnen zu begegnen, ist nicht gering, es gibt in jedem Stockwerk mehr als ein Dutzend Türen, die jeweils drei, vier Meter Wand voneinander trennt. Das Ganglicht geht aus, Simon macht es nicht wieder an. Von einem Fenster dringt spärlich Licht in den Gang, wäre das Ganze eine Szene in einem Film, würde die Spannung beim Zuschauer jetzt langsam steigen, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um öde Routine handelt. An den meisten Türen befindet sich kein Namensschild, auch die Türnummer, die in einzeln nebeneinander gesetzten, metallenen Zahlen am lackierten Türstock angebracht ist, fehlt hie und da. Eingesetzte Sperrholzplatten, verbogene Schlossblenden und gesplitterte, verdreckte Türrahmen künden davon, dass viele Türen schon ohne Schlüssel geöffnet worden sind, ob von Kollegen oder Personen, die offensichtlich eine Rechung mit demjenigen offen hatten, den sie hinter der Tür vermuteten. Fricke verzieht eine Miene, die nervtötende Kleinarbeit verheißt, aber sie haben Glück, an einem Türstock befindet sich ordnungsgemäß die Nummer 934. Sie halten beide die Ohren dicht an die Tür. Der durchschnittliche Bewohner dieses Hauses stellt sich erfahrungsgemäß erst mal tot, sobald es klingelt, erst recht, wenn das Klingeln von einem „Aufmachen, Polizei!“ begleitet wird, da das zumeist eine leere Brieftasche oder aber eine Fahrt in einem blauweißen PKW nach sich zieht. Manchmal hilft nur noch der Zentralschlüssel des Hausmeisters, ein Dietrich oder aber ein mit der legitimierenden Kraft eines Gerichtsbeschlusses ausgeführter Tritt auf Höhe des Türschlosses. Sekunden vergehen. Stille. Nicht nur im Inneren der Wohnung, sondern im ganzen Haus, wo für gewöhnlich immer laute Fernseher, weinende Kinder oder schreiende Mütter zu hören sind. Wahrscheinlich wäre es gut, denkt Simon, diese außerordentliche Stille zum Vorwand zu nehmen, das Gebäude unverrichteter Dinge wieder zu verlassen, bevor man sich unversehens in einer Situation wiederfindet, die einem den Rest des angebrochenen Tages vermiest. Versucht hat man es ja. Er weiß natürlich, dass das sinnlos ist, dass einen das, was man am einen Tag nicht erledigt hat, am nächsten wieder einholt und bis dahin nicht besser geworden ist. Im Gegenteil, je länger sich so eine Sache in die Länge zieht, desto mehr wächst sie sich aus, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus einer Bagatelle, die mit einem schlichten Bußgeld aus der Welt zu schaffen ist, ein Unglück wird, das mit Geld nicht wieder gut zu machen ist.
Plötzlich eine Frauenstimme. Es ist nicht auszumachen, ob sie zu jemandem spricht oder mit sich selbst. Auch handelt es sich um keine zusammenhängende Rede, sondern um einzelne Sätze ohne einen hörbaren Anfang oder ein Ende, Teststreifen aus Sprache, die jemand in der nicht besonders großen Hoffnung auf ein konkretes Ergebnis benutzt. Wieder Stille. Fricke drückt die Klingel, die jedoch keinen Ton erzeugt. Und weil man einfach irgendetwas tun muss, weil man sonst unter dem Verrinnen der Zeit und der unerbittlichen Gewissheit, dass man mit etwas Unangenehmen konfrontiert wird, verzweifelt, halb wahnsinnig wird, klopft Simon energisch an die Tür: „Aufmachen, Polizei!“ Als sich nach neuerlichem Klopfen nichts tut, setzt Simon seine rechte Faust ein, deren dumpfer, das Näherkommen von Gewalt ankündigender Klang manchmal ausreicht, um Leute, die sich bis dahin uneinsichtig gezeigt haben, einzuschüchtern und wieder auf die staatsbürgerliche Spur zu bringen. „Frau Bentz, wir wissen, dass sie da sind. Wir müssen mit Ihnen reden. Ich denke, Sie wissen, worüber. Soll das ganze Haus mithören oder lassen Sie uns rein?“ Zeit vergeht. Vier Sekunden, fünf Sekunden. Simon stellt sich darauf ein, noch einmal mit der Faust gegen die Tür zu schlagen, als er Schritte hört. Hastige, und doch träge Schritte, ein nervöses Schlurfen, bei dem rasch ein Fuß vor den anderen gesetzt wird, wobei die Sohlen nicht wirklich vom Boden hochkommen, sondern ihn entlang wischen wie ein Mopp. Er glaubt zu hören, dass dem Wischgeräusch ein leichtes Klatschen beigemengt ist. (Immer diesen unsinnigen Details, die ihm durch den Kopf schießen, Nebensächliches, das vom Wesentlichen ablenkt, und nur um diese Wesentliche geht es schließlich, um nichts anderes.) Als sich die Tür langsam öffnet, gibt der Stück für Stück größer werdende Spalt eine ungepflegt wirkende Frau unbestimmbaren Alters in einem viel zu großen, wie ein Badetuch an ihrem Körper herabhängenden T-Shirt preis, die den Beamten nicht ins Gesicht blickt, sondern an ihnen vorbei, ins Nirgendwo des Gangs. Simon schaut der Frau, nachdem er ihr Gesicht gestreift hat, auf die Füße, und stellt fest, dass er richtig gehört hat: Sie hat keine Schuhe oder Socken an, das klatschende Geräusch stammt von ihren nackten Fußsohlen am steinernen Boden.
„N’Junkie“, sagt Fricke emotionslos, kalt, ein Stempel, der auf ein Blatt Papier niedersaust, was die Frau dazu bringt, Fricke anzuschauen wie jemand, der auf einem menschenleeren Gleis vor sich hinstarrt und auf die U-Bahn wartet. Frau Bentz – wenn es denn Frau Bentz ist - ist weder beleidigt, noch schämt sie sich. Fricke hat etwas ausgesprochen, dass so offensichtlich ist, dass jede Aufregung darüber sinnlos vergeudete Lebensenergie wäre. Die Energie der Frau ist beschränkt, ihr Vorrat an emotionalem Brennstoff wahrscheinlich so gut wie aufgebraucht, sie muss mit ihrer Wut, Trauer, Lust haushalten, sie bündeln, fokussieren, bis sie durch ihre Luftröhre, ihre Nasenlöcher oder durch die winzige Öffnung einer Einwegspritze passen. „Lassen sie uns hinein“, sagt Fricke, der es nicht als Frage gemeint hat und die Frau beiseite schiebt, die nicht dagegen protestiert. „Sie sind Frau Bentz“. Wieder ist es keine Frage, was auch damit zu tun hat, dass es – denkt Simon - im Grunde egal ist, denn wenn man sich die Frau anschaut, weiß man, dass es keine Falsche trifft, man könnte eine sichere Wette darauf abschließen, dass im Zusammenhang mit ihr etwas anhängig ist oder war.
Die Luft in der Wohnung unterscheidet sich nur graduell von der im Fahrstuhl, und so ist das erste, was Fricke macht, zum einzigen Fenster dieser freiwillig behausten Einzelzelle zu gehen und es zu öffnen.
Der Frau ist Frickes autoritäre Geste ebenso egal wie der Gestank in der Wohnung. „Worum geht’s denn“, fragt sie, dass es sich anhört, als fragte sie: Worum geht’s denn diesmal? „Wir haben hier einen Haftbefehl wegen Leistungserschleichung“, sagt Fricke und übergibt ihr die zweite Ausfertigung des Haftbefehls. „Entweder sie zahlen die geforderten 230 Euro, oder wir nehmen sie mit und sie müssen drei Tage in Haft.“
Frau Bentz beugt den Kopf zum Haftbefehl hinunter, den ihr Fricke in die Hand gedrückt hat, dass man deutlich den aschblonden Haaransatz sieht, der hinter der ausgewaschenen, dunkelroten Färbung nachwächst. Sie schwankt ein wenig, ihre Hände zittern, Simon weiß, sie braucht jetzt etwas, dass sie beruhigt, ihr Halt gibt, und tatsächlich dreht sie sich wortlos weg, entsorgt den Haftbefehl auf dem Tisch und zündet sich eine Zigarette an „Von wann ist denn das?“, fragt sie nach dem zweiten, tiefen Zug. „Das habe ich doch schon bezahlt.“ Fricke geht auf sie zu und bleibt erst stehen, als sie zurückzuckt und ihren mageren Hintern gegen die Tischplatte presst. Wo Fricke mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht, ist sie ein Papierfetzen, der von Windböen vom Boden hoch gerissen, durch die Luft gewirbelt und wieder fallen gelassen wird. „Haben sie denn eine Quittung für die Einzahlung?“ Frickes Ton wird ein wenig schärfer. Es ist irgendwie schlimm, wenn man so leichtes Spiel hat, man müsste eigentlich froh darüber sein. Merkwürdigerweise macht es einen manchmal gereizter, ungeduldiger, als es der Situation angemessen wäre.
„Ja…nein...“. Das Unentschlossene, das Stammeln, das unweigerliche Suchen nach einer Ausflucht, die einen nur noch mehr hineinreitet, denkt Simon, bis man mit der Nase voran wieder einmal eintaucht in die Beschissenheit der eigenen Existenz, zum wievielten Mal wohl?
Fricke weiß das natürlich, wie viele Leute hat er selbst schon am Kragen packen und mit der Nase voran in die Scheiße tauchen müssen, bis sie es schließlich geschnallt haben. „Haben sie nun eine Quittung oder nicht?“ Manchmal hilft es, auf derselben Spur zu bleiben, aber eine andere Fahrrinne zu benutzen. „Wann haben Sie die Summe denn bezahlt?“ „So vor zwei Wochen.“
Mit jeder konkreten Aussage zieht sich die Schlinge enger zusammen. „Vor zwei Wochen? Dann wären wir aber jetzt nicht hier. Dann wäre das Geld nämlich schon bei der Staatsanwaltschaft angekommen.“ Fricke hält inne, um der Frau die Möglichkeit zu geben, diese Schlussfolgerung und deren tiefere Bedeutung für ihren Fall sacken zu lassen, jedoch nicht so lange, dass sie Zeit hat, eine weitere, haltlose Schutzbehauptung aus dem Hut zu zaubern. Fricke versucht, seinem nächsten Satz etwas Ehernes, Naturgesetzliches zu geben: „Also, entweder Du zahlst die Summe jetzt sofort… oder wir nehmen Dich mit auf die Dienststelle.“ Das einseitige Du-Wort schafft ein soziales Gefälle, gleichzeitig erzeugt es die Illusion einer größeren Privatheit, da die Frau mit ziemlicher Sicherheit schon lange von niemand mehr gesiezt wird, auch nicht vom Arzt, dessen Besuch sie vermeidet, oder vom Briefträger, der sich bei Briefsendungen, die vorschriftsmäßig eine Unterschrift des Empfänger erfordern, auf ein umstands- und namenloses „Hier unterschreiben“ beschränkt.
Man hat – wie immer – schon fast nicht mehr daran geglaubt, als sie schließlich doch noch kommt, die Wendung zum Schlechten, die für einen Polizisten immer eine gewisse Einschränkung der Handlungsfähigkeit, wenn nicht gar Hilflosigkeit bedeutet. „In den Knast?“ Die Stimme der Frau hebt sich, beschleunigt sich, es ist noch ein bisschen Leben in ihr, kein ausschließliches Abspulen von gewissen Handlungen, auf das sich die Aktivitäten von schwer Drogenabhängigen irgendwann wie von selbst beschränken. “Und wer kümmert sich dann um meine Kleine?“
Wie auf Knopfdruck bewegt sich etwas sich unter einer schmuddeligen Decke, die auf einer Matratze in einer Ecke des Raums liegt. Ein paar zerzauste Haare kommen zum Vorschein, die offensichtlich einem Kind gehören. Als das Kind schließlich den Kopf hebt, zeigt sich das Gesicht eines zierlichen Mädchens mit großen Ringen unter den Augen, das scheu zu den Beamten herüberblickt, Simon konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob es dabei lächelte oder nicht. Zu wenig Schlaf und zu wenig essen, vermutete er, und wusste, dass Fricke dasselbe vermutete; wusste ebenfalls, dass auch in Fricke kurz ein Gefühl des Hasses hochkam, des Dreinschlagen - Wollens, was, bei genauerer Betrachtung, niemandem in diesem Raum etwas gebracht hätte, am wenigsten dem kleinen Mädchen. Also schluckt man es hinunter, wie man es sich im Laufe der Jahre zur Gewohnheit gemacht hat (um all das Angestaute dann doch irgendwann an irgendwem auszulassen, in einer bestimmten Situation, für deren Zustandekommen Nuancen entscheidend sind).
Fricke ist wie gewohnt der Routinier, der kurzerhand alles vom Tisch wischt, was nicht hinauf gehört: Gefühle, Befangenheit, Parteinahme. „Also zahlst Du jetzt oder nicht“, blafft er.
„Jaja, schon gut...“ sagt die Frau und holt aus der Innentasche ihrer Lederjacke, die neben der Matratze liegt, eine loses Bündel 50 Euro – Scheine hervor. Die Augen des Kindes begleiten sie dabei, Simon verkneift es sich zu fragen, woher sie das Geld hat, er will es gar nicht wissen, er blickt auf eine Haarsträhne, die dem Mädchen über dem linken Auge ins Gesicht hängt. Es gibt ja im Grunde keine Fragen mehr, weil die Antworten längst für jedermann offensichtlich sind, man muss nur hinschauen und es aushalten wollen. Das eine ist schon unangenehm, das andere im Grunde unzumutbar.
„Da“, sagt die Frau und gibt Fricke das Geld. „Ich will aber ´ne Quittung.“
Fricke ist noch da und ist es doch nicht mehr, er denkt schon an den nächsten Haftbefehl, die nächste kleine Tragödie, den nächsten Stumpfsinn. Und an eine Tasse starken schwarzen Kaffe. „Den Ausweis, bitte“, sagt er schnell, bevor auch diese Sache unweigerlich dem großen Vergessen anheim fällt, ohne das das menschliche Zusammenleben schlicht unmöglich wäre.

 

zurück